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Von Kurt Sohnemann
Gizycko. Ohne sich um die Kulisse zu kümmern, ziehen die Enten auf dem kleinen Kanal ihre Kreise. Er verbindet zwei der über 3.000 Gewässerflächen der masurischen Seenplatte miteinander. Hin und wieder fällt etwas Futter durch Angler und Spaziergänger für sie ab. Von denen sind es in den vergangenen Jahren kontinuierlich mehr geworden. Nach und nach haben Menschen die Schönheit Masuren-Ermlands für sich entdeckt, die zuvor auf anderen Pfaden unterwegs waren oder sich durch die Erfindung des E-Bikes einer neuen, naturverbundenen Bewegung hingeben können. Eine Gruppe von Jüngern dieser Entwicklung von Fahrrädern macht sich auf, die Radwege zu ergründen, die sich durch die Seenplatte schlängeln. „Wir haben hier drei unterschiedliche Kategorien von Radwegen“, erklärt Katarzyna aus dem polnischen Fremdenverkehrsteam, „da wären die gepflegt glatten Beläge aus Asphalt, den nenne wir EU-Weg, die polnischen Wege haben häufig brüchigen Asphalt oder Kopfsteinpflaster als Untergrund und dann gibt es noch die russischen Wege“.
Die Radwege führen durch wunderschöne Alleen . . . © Kurt Sohnemann
. . . mit abwechslungsreichem Baumbestand. © Kurt Sohnemann
Sie braucht den Zustand dieser Wege nicht weiter zu erwähnen, weil sie automatisch auf jeden Biker zukommen, der den noch nicht sonderlich deutlich gekennzeichneten Pisten folgt. Wenn die Ursprungsfarbe der Reifen nicht mehr erkennbar ist, hat man historischen Boden unter sich, der allerdings viele Geschichten erzählen könnte. Die sind bestens bei Siegfried Lenz, Arno Holz oder besser noch bei Arno Surminski nachzulesen. Die Schriftsteller haben nicht nur die Mentalität der masurischen Bevölkerung eindrucksvoll beschrieben. Sie haben auch Appetit auf die traumhafte Landschaft gemacht. Auf die Mischwaldbestände, die heute bereits teilweise zu herrlichen Laubwäldern geworden sind. Sie haben die Flächen beschrieben, in denen sich Gräser und Blumen einen Platz zwischen den Gewässern gesucht haben, um zu gedeihen. Die Landwirtschaft findet zum großen Teil noch in einem Rahmen statt, wie er in Deutschland vor einigen Jahrzehnten üblich war. Der Zeitsprung begeistert vielfach. Es ist allerdings auch schwer, auf den teilweise kargen Böden andere Gewächse als Kiefer und Birke zu finden.
Immer wieder stoßen die Radler auf ideale Verhältnisse für Wassersportler. © Kurt Sohnemann
Elche und Wisente sind in der Region beheimatet, auch wenn sie sich der Sichtbarkeit entziehen, wie etwa die Wölfe. Der Fischbestand in den Seen hat es ermöglicht, dass es in der Region noch deutlich mehr Fischereibetriebe gibt, als in anderen Gegenden Europas. Barsche, Brachsen, Schleie, Aale, Hechte, Zander, Welse, Plötze, Weißfische und die in den Wintermonaten gern gegessenen Maränen werden gefangen. Nur bedingt dürfen die Seen mit Motorbooten befahren werden. Mehrheitlich ist das Gebiet zum Segelparadies ausgerufen, wie sich auch deutlich an den zahlreichen Marinas in Masuren erkennen lässt.
Direkt an der Zugbrücke eines seenverbindenden Kanals wurde in Gizycko rund um eine historische Ordensritterburg ein Hotel gebaut und ist ein hervorragender Ausgangspunkt für Fahrradtouren durch Masuren. © Kurt Sohnemann
In einem Museum wird die Geschichte der Festung Boyen in Gizycko gezeigt. © Kurt Sohnemann
Während Gizycko ein relativ unbedeutendes Dasein im polnischen Wirtschaftsgefüge führt, war es in vergangenen Jahrhunderten häufig ein strategisch wichtiger Punkt für kriegerische Auseinandersetzung. Sichtbar wird diese Bedeutung in der Festung Boyen, deren Ausmaß von etwa hundert Hektar durch Mauern und Wälle befriedet ist. Die wechselvolle Geschichte der Einrichtung aus dem 19. Jahrhundert wurde auf Wunsch von Friedrich Wilhelm IV. geschaffen, wobei sie nach dem preußischen Kriegsminister Hermann von Boyen benannt wurde. Heute schildert Museumsdirektor Robert Kempa die Entwicklung und die Bedeutung in schillernden Worten mit der typisch ostpreußischen Phonetik in seiner Stimme. Der Bau der Festung für etwa 3.000 Soldaten endete 1852 und hat heute lediglich einen Stellenwert als Zeugnis der Vergangenheit für die Besucher Gizyckos.
Noch etwa 30 Millionen Euro sind nötig, das Schloss Steinort zu renovieren. © Kurt Sohnemann
Professor Dr. Wolfram Jäger baut mit seinem Team das Anwesen des ehemaligen Widerstandkämpfers Heinrich Graf von Lehndorff wieder auf. © Kurt Sohnemann
Wer sich auf dem Fahrrad in Richtung Norden bewegt, begegnet einer weiteren markanten Einrichtung der Geschichte, der jüngeren Geschichte Masurens. In dem kleinen Dorf Sztynort führt das Schloss Steinort einen hoffnungsvollen Kampf gegen den Verfall unter fachkundiger Leitung von Professor Dr. Wolfram Jäger. Mit einer deutsch-polnischen Stiftung im Rücken arbeitet der Wissenschaftler daran, das Anwesen der Familie Heinrich Graf von Lehndorff wieder aufzubauen. Es soll Erinnerungsstätte wie auch Ort für gesellschaftliche Begegnungen werden. Zahlreiche Studenten und Freiwillige haben sich seit Jahren dort eingefunden, um in Etappen das Ziel zu erreichen. Heinrich Graf von Lehndorff war Mitglied des Teams um Graf von Stauffenberg, die das missglückte Attentat auf Hitler in der Nähe der Wolfsschanze durchführten. Er wurde ebenso wie seine Mitstreiter vom Nazi-Regime ermordet. 70 Jahre wurde das Schloss dem Verfall überlassen, bevor jetzt die Gruppe um Jäger das Heft des Handelns übernahm. Etwa 30 Millionen Euro fehlen noch bis zum Ziel, wobei der Professor der TU Dresden auf weitere Spenden hofft.
Einer der Bunker aus dem Mauerwald, dem ehemaligen Quartier des kriegsführenden Nazi-Regimes. © Kurt Sohnemann
Weniger Kilometer weiter in Richtung Norden stoßen die E-Bike-Fahrerinnen und –Fahrer auf eine der unrühmlichsten Ansammlungen von Bauwerken deutscher Geschichte. Im Dickicht von Laub- und Nadelwäldern, der Mauerwald genannt wird, erstrecken sich die Anlagen um den ehemaligen Führerbunker, in nächster Nähe der Stadt Wegorzewo, die früher Angerburg hieß. Gespenstisch sind die riesigen Betonanlagen in den Boden eingelassen. Vor den Eingängen sammeln sich Menschen, die sich über die Geschichte informieren wollen, wie auch unverblümt uniformierte Ewig-Gestrige, die wenig Distanz zu den massenmordenden Befehlshabern des „Dritten Reiches“ erkennen lassen. Bunker, die Gefangenenzellen wie Wohneinheiten zeigen, die über Gänge miteinander verbunden sind und mit geschmacklosen Figuren in Uniform bestückt sind. Kaum ein von empathischen Gefühlen besetzter Mensch verlässt diesen Ort Masurens ohne ein bedrückendes Gefühl. „Ich bin erstaunt und angenehm berührt, dass uns Deutsche die polnische Bevölkerung mit so viel Wärme begegnet. Nirgendwo ein Vorwurf, der sich aus der Vergangenheit ergibt“, ist einer der Radler angenehm angetan von der Gastfreundschaft der heutigen Bewohner Masurens.
Prunkstück der Klosterbasilika Heiligelinde in Swieta Lipka ist die Orgel. Sie ist eine der größten in Europa. © Kurt Sohnemann
Das barocke Kloster Heiligelinde zählt zu den schönsten Sakralbauten Polens. © Kurt Sohnemann
Dass es in Masuren trotz der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem heimatlichen Boden und den damit verbundenen Völkerverbindungen noch typisch masurische Einwohner gibt, lässt eine der Bewohnerinnen des Ortes Swieta Lipka an ihrer Sprache erkennen. Sie singt geradezu die Vokale ihrer Sprache, die von typisch masurischen Einflüssen geprägt ist. Sie kennt das barocke Kloster „Heiligelinde“ wie ihre Westentasche und zeigt beim Spiel der gigantischen Orgel in der Basilika auf die sich bewegenden Figuren. Sie ist mit 40 Registern und 2.657 Pfeifen ausgestattet, womit sie zu den größten ihrer Art in Europa zählt. Da die polnische Bevölkerung in allen Landstrichen sehr der Religion verbunden ist, verwundert der gute Zustand der Kirchen niemanden, der sich per E-Bike von Kirchturm zu Kirchturm radelt.
Blick aus der Burg Reszel auf die Kirche St. Peter und Paul. © Kurt Sohnemann
Ein lohnenswertes Ziel ist in jedem Fall die kleine Stadt Reszel mit ihrer gotischen Burg, die einst als Holzburg erbaut war. Heute ist sie neben der für die Ortsgröße imposanten Kirche St. Peter und Paul eine markante Stätte der Historie im ehemaligen Rösel. 1806 wurden beide Gebäude nach einem Stadtbrand wieder errichtet. Es wäre aber falsch, sich auf die beiden geschichtsträchtigen Bauwerke allein zu konzentrieren. Die Innenstadt von Reszel bietet durch ihre typische Bebauung viele idyllische Plätze und Gassen. Kleine Cafés werden nicht nur aufgrund der niedrigen Preise gern aufgesucht. Sie spiegeln auch die Leidenschaft der Bewohner für ihre Gastgeberqualitäten wider.
Das Schloss auf dem Landgut Galiny ist heute Stützpunkt für Pferdezucht und Hotelbetrieb. © Kurt Sohnemann
Einmal in der Region, sollte man die Ketten der E-Bikes noch etwas länger strapazieren (52 Kilometer über Ketrzyn (Rastenburg)nach Wegorzewo (Angerburg) führt die Strecke am Mauersee entlang, einem der größten und schönsten Seen der Platte. Eine Alternative Richtung Westen ist das Ziel Lidzbark Warminski (Heilsberg). Eine wie Reszel malerische Kleinstadt mit einem mächtigen Dom, in dem Nikolaus Kopernikus wirkte. Auf nahezu halbem Wege dorthin (28 Kilometer) befindet sich das idyllisch aufgebaute Dorf Galiny. Im Mittelpunkt dieses Ortes befindet sich das Landgut Galiny mit einem ausgezeichneten Restaurant, das sich auf landestypische Spezialitäten konzentriert. Blinis in jeglicher Form, Bigos, Pierogi oder Golabki finden sich hier auf den Speisenkarten wieder. Die Pferdezucht spielt auf dem Areal des ehemaligen Palastes von Botho zu Eulenburg auch heute noch eine große Rolle, während jetzt Holsteiner und Westfalen gezüchtet werden. Auf dem Hof gibt es zudem einen Reitstall mit Schulpferden, so dass Urlaubern jederzeit die Möglichkeit gegeben ist, die einzigartige Natur auf dem Pferderücken zu erkunden. Ein Verleih von Fahrrädern und E-Bikes ergänzt das Programm des Anwesens, auf dem Hotelzimmer für Langzeitaufenthalte und Kurzbesuche vorhanden sind. Die 300 Hektar große Anlage stellt eine natürliche Spiegelung der gesamten Region dar, indem Wasserflächen im Zusammenspiel mit Wald und Weidelandschaften eine Symbiose abgeben.
Zahlreiche Fahrradwege unterschiedlicher Qualität führen durch landschaftlich schöne Regionen Masurens. © Kurt Sohnemann
Manchmal feudal, manchmal rustikal – die Ruheplätze für Radler bieten immer eine Verbindung zur Seenlandschaft. © Kurt Sohnemann
Da sich in der Perle des Ermlands, wie Lidzbark Waminski (Heilsberg) auch gern genannt wird, ein zum Luxushotel ausgebautes Schloss befindet, ist dieses auch der Öffentlichkeit zugängig. Es empfiehlt sich, hier mindestens eine Nacht zu verbringen, weil sich insbesondere nachts ein hervorragender Blick über die Altstadt bietet. Eine Altstadt, die hinsichtlich der gepflegten Bebauung und des großen Marktplatzes eine eindrucksvolle Atmosphäre vermittelt.
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, die Schönheiten Masuren-Ermlands mit dem E-Bike zu erkunden. © Kurt Sohnemann
Eine Vielzahl privater Anbieter haben sich auf die steigende Zahl der Besucher in Masuren-Ermland auf die steigenden Gästezahlen mit Zimmervermietungen eingestellt. © Kurt Sohnemann
Wer Masuren mit allen Sinnen erleben will, ist auf dem E-Bike bestens aufgehoben, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Auch wenn die Radwege nicht immer von allerfeinstem Untergrund sind, ist ein Durchkommen gewährleistet. Erfahrene Unternehmen übernehmen den Gepäcktransport zu den Tageszielen, so dass es eine unbeschwerte Reise sein wird. So bleibt Zeit für das Geklapper der etwa 175.000 Störche, die jährlich in Masuren-Ermland gezählt werden. Auch sollte sich niemand darüber wundern, wenn er während der Fahrt auf zwei Rädern See- oder Schreiadler zu Gesicht bekommt. Die Natur zeigt hier alle Facetten, die in industrialisierten Gegenden schon zur Vergangenheit gehört. (
autour24/ks)
Infos: www.belvelo.de, www.polen.travel.de