Von Klaus H. Frank
Wenn ein Auto in zehnter Generation auf dem Markt ist, dann ist es ein Klassiker. Die E-Klasse gehört dazu, wenngleich die ersten fünf Generationen noch nicht das Kürzel „E“ führen durften und so weit weg waren von der aktuellen Generation wie die Erde vom Mond. Begonnen hatte alles mit dem W 136, besser bekannt als 170er. Er wurde schon vor dem zweiten Weltkrieg gebaut, aber auch noch danach, bis er 1953 vom W 120 (Ponton) abgelöst wurde. Es folgten die drei Modellreihen W 110 („kleine Heckflosse“) W 114/W115 („Strich-Acht“) und W 123, deren Nachfolger der W124 (ab 1984) sich als erster E-Klasse nennen durfte. Nach W 210, W 211, W 212 rollt nun seit April letzten Jahres der W 213 auf unseren Straßen, ein Modell, bei dem die Zukunft bereits begonnen hat.
Zu Ende gedacht, kann einem die Digitalisierung im Auto und das logischerweise folgende autonome Fahren schon ein bisschen Angst machen. Wer ist letztendlich verantwortlich, Mensch oder Maschine, wenn eine falsche Entscheidung zu einem Unfall führt? Daran wollten wir jedoch nicht denken, als wir die neue Mercedes E-Klasse steuerten, das derzeit wohl am meisten fortschrittliche Auto, was autonomes Fahren betrifft. Im Gegenteil, wir genossen es, wenn uns die Sicherheits-Systeme die Arbeit abnahmen, wenn es zum Beispiel darum ging, sorgen- und unfallfrei durch den dichten Feierabendverkehr der Stadt zu kutschieren. Wie schnell ist man doch abgelenkt, mit den Gedanken noch halb im Büro, halb schon daheim bei der Gartenarbeit. Und bumms, hat’s gekracht – oder besser, hätte es gekracht, wäre da nicht der wachsame Brems-Assistent. Er überwacht mit seinen Radar-Augen den Verkehr direkt vor der E-Klasse und checkt ab, wie die Entfernung und Geschwindigkeit des Vorausfahrenden ist. Wird’s mit dem Abstand kritisch, warnt der Assistent optisch, wird‘s kritischer, warnt er zusätzlich akustisch und wird’s richtig gefährlich, weil eine Kollision droht, dann steigt der Herr Assistent höchstpersönlich in die Eisen und bremst die E-Klasse ab, um die Kollision zu vermeiden oder deren Folgen in Grenzen zu halten. Auch tritt der Assistent in Aktion, wenn der Fahrer zu zögerlich bremst. Dann nämlich verstärkt der Assistent die Bremskraft, deren erforderliche Stärke er schon vorher angesichts der drohenden Gefahr berechnet hatte.
Ist dieser serienmäßige Bremsassistent ein wahrer Segen für all jene, die in ihrer Schusseligkeit schon so manche Beule im Auto beweinen mussten, so ist der nächste Level intelligenten Fahrens ein wichtiger Schritt hin zum vollautonomen Fahren, bei dem der Pilot soweit entlastet wird, dass er über längere Strecken sogar die Hände vom Lenkrad nehmen kann. Sind die Hände jedoch zu lange weg vom Steuer, dann warnt das System und bremst das Fahrzeug notfalls (z.B. bei Ohnmacht des Fahrers) bis zum Stilltand ab und schaltet das Warnblinksystem ein.
Drive Pilot (2856 Euro Aufpreis) nennt sich unser Lieblings-Assistent, der mit seiner Distronic automatisch den korrekten Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen halten kann, indem er die eigene, voreingestellte höhere, Geschwindigkeit auf ein langsamer vorausfahrendes Fahrzeug einregelt und bei freier Straße wieder auf die eingestellte Geschwindigkeit beschleunigt. So fühlt sich der E-Klasse-Fahrer wie an einem unsichtbaren Gummiband hinter dem vorausfahrenden Auto hinterhergezogen, ohne bremsen oder Gas geben zu müssen. Bis zu Geschwindigkeiten von 210 km/h kann der Drive Pilot dabei die Spur halten und den Fahrer auch beim Lenken unterstützen – und dies sogar in Kurven. Seine „Intelligenz und sein Wissen“ bezieht der Drive-Pilot aus dem Zusammenspiel einer Kamera mit Radarsensoren sowie aus der Orientierung an Fahrbahnmarkierungen und am vorausfahrenden Auto. Bis Tempo 130 km/h ist der Drive Pilot dabei nicht auf deutlich sichtbare Fahrbahnmarkierungen angewiesen, sondern kann sogar (wie oft in Baustellen) ohne Linien aktiv eingreifen. Ist das System Comand Online an Bord, kann der Drive Pilot sogar Geschwindigkeitsbeschränkungen, auch an Schilderbrücken und vor Baustellen, erkennen und das Tempo auf dieses Limit herunter regeln. Dies funktioniert auch bei bekannten Tempolimits, zum Beispiel bei 50 km/h innerorts oder 100 km/h auf Landstraßen.
All dies fühlt sich schon ein bisschen komisch an und erweckt den Anschein, als würde der Fahrer entmündigt. Wem das System bei einer eventuellen Geschwindigkeitsübertretung jedoch mal den Führerschein gerettet hat, der wird sich kaum mehr darüber beschweren. Außerdem kann sich der Fahrer stets über das System hinwegsetzten, kann es „overrulen“.
Beeindruckend ist ein Assistent, der den Spurwechsel oder das Überholen auf mehrspurigen Straßen unterstützt. Hat der Fahrer den Blinker für mindestens zwei Sekunden gesetzt, um die Fahrspur zu wechseln, lenkt der Spurwechsel-Assistent das Fahrzeugs auf die gewünschte Nachbarspur, wenn diese frei ist.
Es gibt zwar noch etliche weitere Assistenten, aber die E-Klasse bezieht ihre Attraktivität ja nicht nur aufgrund der Assistenzsysteme. Komfort ist ein großes Thema, bei dem die E-Klasse wie kaum ein anderer Konkurrent hervorragend abschneidet. Dank der optionalen Luftfederung ist es den Ingenieuren gelungen, sowohl den Komfort, gleichzeitig aber auch die Sportlichkeit zu erhöhen. Egal wie der Straßenzustand ist, ob die Fahrbahn mit Schlaglöchern gepflastert ist, die E-Klasse filtert alles weg, lässt nichts an die Bandscheiben der Fahrgäste durchdringen. Das Fahrwerk unterbindet nahezu komplett das Untersteuern und lässt kein Wanken oder Rollen zu. Der Geräuschpegel bleibt stets extrem niedrig, sogar mit dem Selbstzünder des Testfahrzeugs (220d), der ohnehin als Flüsterdiesel gilt.
Dieser neu entwickelte Vierzylinder-Turbodiesel mit 1950 Kubik Hubraum (194 PS) und dem bulligen Drehmoment von 400 Nm zwischen 1.600 und 2.800 U/min kann begeistern – nicht nur wegen seiner Kraft, sondern in erster Linie wegen seiner Kultiviertheit. Im Sportmodus haben die Akustiker dem Motor zwar etwas Knurren beigebracht, doch bei normaler Einstellung säuselt er fast wie ein Otto-Motor und enttäuscht weder mit Leistungswerten noch Verbrauchsdaten. Mit dem sehr schnell schaltenden Neunstufen-Automatikgetriebe schafft er den Sprint auf 100 in 7,3 Sekunden und erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 240 km/h. Der Normverbrauch von 3,9 Litern ist wegen des überholten Mess-Systems illusorisch, aber auch der von uns am Instrument abgelesene Testverbrauch von 6,5 Litern ist nicht von schlechten Eltern.
Im Innenraum der E-Klasse, der dank 2,94 Meter Radstand und 4,92 Meter Außenlänge recht üppig ausfällt, empfängt uns ein „Coming-home-Feeling“. Alles wirkt vertraut, dennoch ist vieles neu. Wie etwa Bedientasten in den Lenkradspeichen. Wie beim Smartphone oder iPad reagieren die beiden Felder auf Berührung, also auf horizontale und vertikale Wischbewegungen. Die linke Touchcontrol kümmert sich um relevante Fahrzeugfunktionen, die rechte steuert das Infotainment – das macht man ganz intuitiv mit den Daumen. Man kann aber auch das Touchpad mit Controller in der Mittelkonsole nutzen, das sogar Handschriften erkennt, oder aber die Sprachsteuerung. Blickfang jedoch sind zwei breite, hochauflösende Displays mit jeweils 31,2 Zentimeter Bilddiagonale. Optisch verschmelzen sie unter einem gemeinsamen Deckglas zu einem Wide-Screen-Cockpit. Das Display lässt sich bei Nacht mit der Multicolor-Ambientebeleuchtung hinterleuchten – das Widescreen-Cockpit scheint dann frei zu schweben.
Selbstredend, dass die Materialien in Innenraum äußerst hochwertig sind. Besonders schick finden wir Holz im Yachting Look mit „flowing lines“ ähnlich wie Holzintarsien. Edles wohlriechendes Leder, von sauberen Nähten umkränzt, und Applikationen mit Klavierlack betonen die Eleganz.
Das Wunder der Technik aus Stuttgart hat natürlich auch einen Preis – und der ist hoch. 47 338,20 Euro klingen auf den ersten Blick ja eigentlich gar nicht sooo schlecht. Wer allerdings seine E-Klasse mit geballter Intelligenz ausstatten möchte, der darf gut und gerne nochmal 30 000 Euro draufschlagen. (autour24)
Technische Daten Mercedes E 220d: Viertürige, fünfsitzige Limousine, Länge/Breite/Höhe/Radstand in Meter: 4,92/1,85/1,49/2,94, Kofferraumvolumen: 530 Liter, Leergewicht: 1.680 kg, max. Zuladung: 650 kg, Anhängelast gebremst: 2.100 kg, ungebremst: 750 kg, Tankinhalt: 50 Liter. Vierzylinder-Turbodiesel mit 1.950 ccm Hubraum, max. Leistung: 143 kW/194 PS bei 3.800/min, max. Drehmoment: 400 Nm bei 1.600 – 2.800/min, 9-stufiges-Automatikgetriebe, 0-100 km/h: 7,3 s, Höchstgeschwindigkeit: 240 km/h, Normverbrauch: 3,9 Liter Diesel/100 km, Testverbrauch: 6,5 Liter Diesel/100 km, CO2-Emission: 102 g/km, Preis: ab 47.338,20 Euro.