Von Klaus H. Frank
Der typische Kurztrip zu einer Autovorstellung war das sicher nicht: Chile, der 4270 Kilometer lange und nur 177 Kilometer schmale Andenstaat in Südamerika als Schauplatz für die Fahrpräsentation des ersten Pick-ups von Mercedes – das ist ganz schön weit weg. Nun, die Stuttgarter hatten sich schon was dabei gedacht, 15 Flugstunden entfernt von Spätzle und Schupfnudeln Journalisten aus aller Welt die neue X-Klasse zu präsentieren. Südamerika nämlich ist ein hochinteressanter Markt für Pick-ups – und tatsächlich, gefühlt ist hier in Chile jedes vierte Auto ein Pick-up.
Oberster Anspruch bei der Konstruktion der Premium-Pritsche: Die X-Klasse soll der Mercedes unter den Pick-ups werden. Operation gelungen, sagt schon der erste Blick: Nicht nur wegen des Zentralsterns im Zentrum des dominanten Kühlergrills mit zwei markanten Querstreben – sondern ganz generell. Das Design ist bulliger, aber auch eleganter als wir es von anderen Mid-Size-Pick-ups kennen – und es ist typisch für einen Mercedes-SUV. Ausgestellte Radhäuser, glattflächige Flanken, kurzer Überhang vorne, langer Überhang hinten, zurückgesetzte Fahrgastzelle – spätestens jetzt wird klar: Die X-Klasse hat mit einem Nissan Navarra oder Renault Alaskan nichts am Hut, obgleich deren robuste Leiterrahmen als Basis-Spender unter dem Blechkleid der X-Klasse stecken – jedoch stark modifiziert.
Bei der Karosserie ist nicht ein einziges Teil mit Navarra/Alaskan identisch. Die X-Klasse ist sieben Zentimeter breiter und hat komplett neue Konturen. Innen schlägt sich dies mit fünf Zentimeter mehr Ellbogenfreiheit sehr positiv nieder. Komplett renoviert ist das Fahrgestell, das eine deutlich breitere Spur besitzt als die Produkte der Kooperationspartner Nissan/Renault. Blattfedern sind durch Schraubenfedern ersetzt und sorgen wie auch die Mehrlenker-Starrachse für Fahrkomfort und Handling wie im Pkw. Ein Grund zu jubeln, denn die mit Schlaglöchern gepflasterten Landstraßen um Chiles Hauptstadt Santiago attackieren die Bandscheiben der Passagiere ziemlich brutal. Auch die allgegenwärtigen „sleeping policemen“, diese fetten Buckel in der Straße, mit denen die Chilenen das Tempo wirksamer reduzieren als mit simplen Verkehrs-Schildern, steckt die X-Klasse klaglos weg und wieselt um die Ecken, als ob’s ein Kompakter wär. Und dies bei einer Länge von 5,34 Metern und der Breite von 1,92 Meter. Und erstaunlicherweise scheppert zwischen Loch und Buckel rein gar nichts: Die Geräuschdämmung haben die Entwickler wirklich perfekt hinbekommen. Kein Knarzen, kein Klappern, selbst die Reifen-Abrollgeräusche sind nahezu komplett ausgesperrt – Respekt.
Logisch, dass die in den drei Ausstattungslinien Pure, Progressive und Power lieferbare X-Klasse auch Gelände kann. Hierfür besitzt sie einen zuschaltbaren Allradantrieb mit Gelände-Untersetzung und optionaler Differenzialsperre an der Hinterachse. Ohne Murren klettert sie bergauf und dank Bergabfahrhilfe ohne Einsatz des Brems- oder Gaspedals auch wieder hinab. Etliche Assistenzsysteme helfen dabei: Offroad zum Beispiel die 360 Grad-Surroundkamera und Onroad ein Spurhalte- und Verkehrszeichen-Assistent.
Es ist ein Spagat, den Mercedes da vollführt. Zum einen soll die X-Klasse gleichwohl Lastenesel für deutsche Handwerker und argentinische Rinderzüchter sein, aber auch Lifestyleprodukt für all jene, denen ein simpler SUV zu langweilig und in seinem Nutzen zu eingeschränkt ist – ein Lifestyle-Laster also, perfekt um Gartenabfälle, aber auch Enduros zu transportieren. Es ist ja wirklich beachtlich, was die X-Klasse laden und schleppen kann. Mercedes hat es ausgerechnet: Dank 1,1 Tonnen Nutzlast können 17 volle 50-Liter-Bierfässer auf der 1,59 Meter langen und 1,56 Meter breiten Ladefläche transportiert werden. Na dann Prost. Auch die gern zitierte Europalette passt drauf. Und mit der Anhängelast von 3,5 Tonnen kann die X-Klasse einen Pferde-Anhänger mit drei Vollblütern ziehen.
Die Qualität des Passagierraums war Mercedes ein besonderes Anliegen. Und deshalb hebt sich die ausschließlich als Doppelkabine lieferbare X-Klasse auch deutlich positiv ab von dem, was die japanisch/französische Allianz bietet. Das Cockpit ist komplett neu und erinnert stark an die V-Klasse. „Wir wollten ein Coming-Home-Gefühl erzeugen“, sagt Kai Siebert, Designchef Mercedes-Benz Vans. Dies ist gelungen, jedoch mit Abstrichen. Die Armaturentafel, eine konkave Spange, die sich über die gesamte Breite des Cockpits spannt, sieht – egal ob als Holz- oder Alu-Imitat – nicht nur billig aus, sondern fühlt sich auch so an. Der untere Bereich besteht aus Hartplastik, ebenso Teile der Türenverkleidung. Die Lüftungsdüsen sind – schlecht verarbeitet – aufgesetzt. Das ist nicht Premium, nicht Mercedes-like. Da die Fahrzeuge aus der Vorserienproduktion stammen, sollte noch einiges verbessert werden können – es besteht dringend Bedarf zur Nachbesserung.
Bei den Motoren hat Mercedes vorerst auf Nissan zurückgegriffen und bestückt die X-Klasse mit zwei Vierzylinder-Dieseln mit 2,3 Liter Hubraum und wahlweise 163 PS (X 220d) oder 190 PS (X 250d) – erstaunlicherweise prangt auf der Motorabdeckung ein Mercedes-Stern. Beide Varianten sind mit Heck- und Allradantrieb zu haben und kommen serienmäßig mit einem Sechsgang-Schaltgetriebe, der X 250 d wird wahlweise mit Siebengang-Automatik angeboten. 2018 folgt ein echter Mercedes-Diesel (X 350d) mit 258 PS und 550 Newtonmeter und permanentem Allradantrieb sowie 7G-Tronic-Automatik. Wir haben’s ausprobiert: Die Kiste geht richtig ab.
Der Mercedes-Pick-up ist Premium und so sind auch die Preise: Die X-Klasse startet im November zum Grundpreis von 37.294 Euro. Der X 220d mit Allradantrieb und Schaltgetriebe liegt bei 39.115 Euro, der 250d mit 190 PS und Heckantrieb bei 41.816 Euro. Der 250d 4Matic mit Siebengang-Automatik kostet 41.780 Euro. Auf der nach oben nahezu offenen Liste der Sonderausstattungen können die Preise mühelos in Regionen mit einer „6“ vorne dran katapultiert werden. Mercedes-Premium kostet halt – egal ob Pick-up oder Luxus-Limo.
Technische Daten Mercedes-Benz X 250 d 4Matic: Hubraum 2298 ccm, Leistung 190 PS, Max. Drehmoment 450 Nm, 0-100 11,8 Sek, Top-Speed 175 km/h, Normverbrauch 7,9 Liter, L/B/H 5,34/1,91/1,82 Meter, Radstand 3,15 Meter, Zuladung 1067 Kilo, Anhängelast 3500 Kilo, CO2-Ausstoß 207 g/km, Preis 41 781 Euro. (autour 24/khf)